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Sebastian Flick
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<script>
2-
/** @type {import('./$types').PageData} */
3-
export let data;
4-
</script>
1+
<div class="container mx-auto">
2+
<h1 class="h1 mb-4">
3+
Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹.<br />Eine überlieferungskritische Ausgabe in digitaler Form
4+
</h1>
5+
<h2 class="h2">Voraussetzungen</h2>
56

6-
<h1>Einführung</h1>
7+
<p>
8+
<font size="+2">W</font>olfram von Eschenbach hat mit seinem ›Parzival‹ einen der bedeutendsten
9+
Erzähltexte des europäischen Mittelalters geschaffen. Der zwischen 1200 und 1210 entstandene
10+
Versroman verbindet den keltischen Artusstoff mit religiöser Gralsthematik. Als zentral
11+
erscheint dabei die Frage, wie eine von Widersprüchen und Gegensätzen zerrissene Welt wieder
12+
heil wird.
13+
<br />
14+
15+
Wolfram verleiht dieser Frage in der fiktiven Gestalt seines ›Parzival‹ ein überzeitliches
16+
Gepräge, und er hat damit eine intensive Rezeption hervorgerufen. Allein die heute bekannten
17+
Zahlen der mittelalterlichen ›Parzival‹-Überlieferung sprechen für sich: Man kennt 16
18+
(annähernd) vollständig erhaltene Handschriften, über 70 Fragmente sowie einen Druck vom Jahr
19+
1477. Schätzungen der im Mittelalter kursierenden Überlieferungsträger belaufen sich auf bis zu
20+
1000 Textzeugen. <br />
21+
22+
Seit im 18. Jahrhundert das Interesse an den volkssprachigen Dichtungen des Mittelalters
23+
wiedererwacht ist, beschäftigt sich auch die moderne Literaturwissenschaft mit Wolframs
24+
Gralsroman. Die dabei erarbeiteten Deutungen sind ebenso vielfältig wie kontrovers. Doch
25+
orientiert sich die Exegese an einer Ausgabe, die – zu ihrer Entstehungszeit ein editorisches
26+
Meisterwerk – gegenwärtigen Ansprüchen nicht mehr genügen kann. Karl Lachmanns
27+
›Parzival‹-Edition von 1833 bildete für Generationen von Germanisten die maßgebliche Basis der
28+
Auseinandersetzung und fand Neubearbeitungen bis ins 21. Jahrhundert. Dass sie bis heute
29+
unersetzt blieb, liegt an der Fülle des handschriftlichen Materials und am Umfang des nahezu
30+
25.000 Verse umfassenden ›Parzival‹-Romans. Gleichwohl ist man sich in der jüngeren Forschung
31+
einig über die Notwendigkeit einer Neuausgabe, und entsprechend unbefriedigend gestaltet sich
32+
die Arbeit mit einem gemeinhin als revisionsbedürftig erkannten Text. <br />
33+
34+
Kritik findet Lachmanns Methode der Textherstellung, die ein überlieferungsgeschichtlich nicht
35+
einholbares Autororiginal zu rekonstruieren sucht. Kritik finden zahlreiche editorische
36+
Entscheidungen Lachmanns, so namentlich jene, im Handschriftenapparat die
37+
Überlieferungsverhältnisse nicht genau zu bezeichnen, sondern durch Gruppensiglen zu
38+
verschleiern. Kritik findet schließlich die Tatsache, dass die von Lachmann abhängigen
39+
Neuausgaben die Vielzahl der inzwischen bekannt gewordenen Überlieferungsträger nicht
40+
hinreichend berücksichtigen. Aus diesen Defiziten ist das Desiderat einer neuen kritischen
41+
Textausgabe erwachsen, die auf der Grundlage der gesamten heute bekannten Überlieferung basiert
42+
(<a href="javascript:fenster('anmerkung/bumke.html')">J. Bumke</a>).
43+
</p>
44+
45+
<h2>Methodischer Kontext</h2>
46+
<p>
47+
<font size="+2">D</font>ieses Desiderat findet sich auf zentrale Probleme in der philologischen
48+
Theoriediskussion der germanistischen Mediävistik verwiesen. Zu nennen wären Phänomene wie das
49+
Verhältnis von Aufführung und Schrift, die vielfach beobachtbare Varianz mittelalterlicher
50+
Texte, Konzepte der Autorschaft und Überlieferungsgeschichte sowie Fragen einer adäquaten
51+
Textherstellung und Textpräsentation. Sehr stark vereinfacht ließe sich sagen, daß die
52+
Fachdebatte um zwei Standpunkte kreist, die man schlagwortartig mit den Begriffen
53+
<i>New Philology</i> und <i>New Phylogeny</i> benennen könnte (bei letzterem handelt es sich um
54+
einen hier in Anlehnung an die Bezeichnung
55+
<i>New Philology</i> geprägten Neologismus): <br />
56+
57+
Die <a href="javascript:fenster('anmerkung/nphil.html')"><i>New Philology</i></a> betont die
58+
handschriftliche Vielfalt und die daraus resultierende Unfestigkeit der mittelalterlichen Texte.
59+
Sie tendiert dazu, die Hierarchie der einzelnen Überlieferungszeugen zugunsten eines prinzipiell
60+
variablen, unfesten Status der mittelalterlichen Handschriftenkultur preiszugeben. <br />
61+
62+
Die <i>New Phylogeny</i> hält demgegenüber an handschriftlichen Bezügen und Gruppierungen als
63+
der Basis überlieferungskritischer Untersuchungen fest. Der aus der Evolutionsbiologie stammende
64+
Begriff <i>Phylogeny</i> (deutsch: <span class="doublequote">‚</span>Phylogenese<span
65+
class="doublequote">‘</span
66+
>) bezeichnet die stammesgeschichtliche Verwandtschaft der Arten und wird im angelsächsischen
67+
Raum derzeit auf Fragen handschriftlicher Beziehungen angewandt, so etwa in der
68+
<a href="javascript:fenster('anmerkung/chaucer.html')"> Chaucer-Forschung</a>.<br />
69+
70+
Eine kritische Neuausgabe des ›Parzival‹ muss der zu verarbeitenden Lesartenfülle und den nicht
71+
unbeträchtlichen Problemen der Textherstellung vor dem methodischen Hintergrund der Polarität
72+
von
73+
<i>New Philology</i>
74+
und <i>New Phylogeny</i> begegnen. Damit erscheint eine in der ›Parzival‹-Philologie der
75+
sechziger Jahre erhobene Forderung aktueller denn je, nämlich
76+
<span class="doublequote">„</span>vor der Klärung der Hss.-Verzweigung das gesamte Material, das
77+
zur textkritischen Auswertung gesammelt wurde, [...] zu publizieren<span class="doublequote"
78+
>“</span
79+
>
80+
(<a href="javascript:fenster('anmerkung/nellmann.html')">E. Nellmann</a>). <br />
81+
82+
Der Gedanke mag, als er 1968 vorgebracht worden ist, utopisch erschienen sein. Er lässt sich
83+
jedoch heute mit Hilfe digitaler Methoden umsetzen. Eine überlieferungskritische Ausgabe in
84+
digitaler Form ist die unverzichtbare Voraussetzung für jede Neuedition des ›Parzival‹.
85+
</p>
86+
87+
<h2>Das Parzival-Projekt</h2>
88+
89+
<p>
90+
<font size="+2">I</font>m Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds und phasenweise von der
91+
Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts erarbeitet ein von Prof. Dr. Michael Stolz
92+
geleitetes Forschungsteam an der Universität Bern eine solche digitale Ausgabe. Dabei wird eine
93+
Edition nach Fassungen erstellt, die auf Volltranskriptionen aller Textzeugen beruht und in
94+
Anlehnung an den von Joachim Bumke geprägten
95+
<a href="javascript:fenster('anmerkung/klage.html')">Fassungsbegriff</a>
96+
vier Textfassungen dokumentiert: *D (basierend u.a. auf Handschrift D), *m (basierend u.a. auf den
97+
Handschriften mno), *G (basierend u.a. auf den Handschriften GI LM OQR Z), *T (basierend u.a. auf
98+
den Textzeugen TUVW).<br />
99+
Durch die Neuedition wird – im Sinne der <i>New Philology</i> – die Unfestigkeit des Textes in
100+
ihrer überlieferungsgeschichtlichen Vielfalt sichtbar. Gleichzeitig ermöglichen digitale
101+
Speicherverfahren auch – den Forderungen der <i>New Phylogeny</i> entsprechend – einen neuen
102+
Blick auf handschriftliche Beziehungen. Hierbei kann auf stemmatologische Vorgehensweisen
103+
zurückgegriffen werden, die der niederländische Romanist
104+
<a href="javascript:fenster('anmerkung/dees.html')">Anthonij Dees</a>
105+
entwickelt hat. <br />
106+
107+
Anstelle von historischen Genealogien handschriftlicher Stammbäume geht Dees von Verkettungen in
108+
sogenannten
109+
<span class="doublequote">‚</span>unrooted trees<span class="doublequote">‘</span> aus, die
110+
keinen Aufhängungspunkt haben und auf die von einem Archetypus ausgehenden Verzweigungen
111+
verzichten. Dieses Abstraktionsniveau macht das Aufzeigen von Beziehungen zwischen
112+
handschriftlichen Varianten möglich, ohne dass daraus schon zwingend genealogische
113+
Abhängigkeiten erschlossen werden. Nach demselben Prinzip verfahren phylogenetische Analysen der
114+
Evolutionsbiologie, die aufgrund bestimmter Eigenschaften einzelner Arten deren Beziehungen und
115+
Gruppierungen ermitteln, noch ehe daraus Schlussfolgerungen über die Stammesgeschichte selbst
116+
gezogen werden. In Zusammenarbeit mit Biologen und Philologen an den Universitäten Cambridge
117+
(England) und Helsinki (Finnland) konnten solche <span class="doublequote">‚</span>unrooted
118+
trees<span class="doublequote">‘</span> zu verschiedenen Abschnitten des ›Parzival‹-Romans
119+
erstellt werden. Vgl. dazu den
120+
<a href="projektaufsaetze/Stolz_Wolfr12_SD.pdf" target="_blank">Beitrag von Michael Stolz</a> in:
121+
Wolfram-Studien 23 (2014), bes. S. 459–465.
122+
</p>
123+
124+
<h2>Editionsproben</h2>
125+
126+
<p>
127+
<font size="+2">W</font>elche Möglichkeiten die synoptische Darstellung von Fassungen und
128+
Überlieferungsträgern am Bildschirm bietet, zeigt die Abteilung
129+
<a href="editionen.html" target="_blank">Editionsproben</a>
130+
auf dieser Website. Dort werden auch die Verfahren der
131+
<a href="javascript:erlaeuterungsFenster('erlfass.html')">Fassungsedition</a>
132+
und das Modell einer
133+
<details class="inline open:block">
134+
<summary>Eintextedition</summary>
135+
Neben der synoptischen Mehrtextedition wird auch eine Eintextedition (Lesetext) angeboten, in welcher
136+
die wichtigsten editorischen Informationen gebündelt präsentiert werden. Der kritische Text ist
137+
hier nach Fassung *D auf der Grundlage des St. Galler Codex 857 eingerichtet. Rechts daneben werden
138+
in verkleinertem Schriftgrad die Varianten der Fassungstexte *G und *T (nach der jeweiligen Leithandschrift)
139+
in normalisierter Form mit der jeweiligen Fassungssigle angegeben, wobei auch Binnenvarianten ausgewählter
140+
Handschriften berücksichtigt werden. Die Varianten der Fassung *m (die Fassung *D nahe steht) sind
141+
dagegen in der dritten Apparatetage untergebracht: Die erste dieser drei Apparatetagen listet die
142+
Auswahl der Textzeugen auf, die bei der Angabe der Fassungsvarianten mit berücksichtigt werden.
143+
Es sind dies neben den Leithandschriften D, m, G und T weitere vollständige Handschriften und gegebenenfalls
144+
Fragmente, die aus textgeschichtlicher Perspektive als besonders wichtig erachtet werden. Die zweite
145+
Apparatetage beinhaltet (ähnlich wie „Apparat 1“ in der synoptischen Edition) Angaben zur materiellen
146+
Gestalt der ausgewählten Textzeugen; aufgeführt sind Initialen, Majuskeln sowie gegebenenfalls
147+
Überschriften und Illustrationen. Die dritte Apparatetage dokumentiert Abweichungen der Leithandschrift
148+
D gegenüber dem konstituierten Text *D und verzeichnet die Varianten der Fassung *m. Auf semantisch
149+
wichtige Fassungsunterschiede der Fassung *m macht gegebenenfalls ein auf diese Apparatetage verweisendes
150+
Pfeilsymbol in der Spalte der Fassungsvarianten (neben dem *D-Text) aufmerksam. In seltenen Fällen
151+
wird das auf diesen Apparat verweisende Pfeilsymbol auch für Varianten der Fassungen *G und *T
152+
verwendet, falls deren Wortlaut aus Platzgründen nicht neben dem Lesetext untergebracht werden
153+
kann. Ausführlichere Erläuterungen zur Eintextedition enthalten die Beiträge: Michael Stolz: Von
154+
den Fassungen zur Eintextedition. Eine neue Leseausgabe von Wolframs ›Parzival‹, in: Überlieferungsgeschichte
155+
transdisziplinär. Neue Perspektivenauf ein germanistisches Forschungsparadigma, in Verbindung mit
156+
Horst Brunner u. Freimut Löser hg. von Dorothea Klein, Wiesbaden 2016 (Wissensliteratur im Mittelalter
157+
52), S. 353–388. Brüggen, Elke u. Michael Stolz: Fassungen, Übersetzung und Kommentar. Profile
158+
einer neuen Ausgabe von Wolframs ›Parzival‹ – erscheint in: Walther von der Vogelweide. Düsseldorfer
159+
Kolloquium 2018, in Verbindung mit Franz-Josef Holznagel u. Mathias Herweg hg. von Ricarda Bauschke-Hartung,
160+
Berlin 2020 (Wolfram-Studien 26), S. 471–493 (im Druck)
161+
</details>
162+
(basierend auf<a href="hsverz.html" target="_blank">Codex 857</a> der Stiftsbibliothek St.
163+
Gallen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, Hs. D) erläutert.<br />
164+
165+
Zweifellos kann in einer Digitaledition die von der <i>New Philology</i> postulierte Varianz
166+
angemessener dokumentiert werden als in konventionellen Textausgaben. Die kritischen Apparate
167+
traditionellen Zuschnitts teilen die Lesarten zumeist nur punktuell mit, wobei die Varianten
168+
Wort für Wort wiedergegeben werden. Am Bildschirm hingegen wird die überlieferungsgeschichtliche
169+
Vielfalt nachvollziehbar. Der zweite wichtige Vorteil der Digitaledition liegt jedoch gerade in
170+
dem von der <i>New Phylogeny</i> geforderten Aufweis handschriftlicher Gruppierungen.
171+
Computerprogramme beschleunigen die Analyseverfahren und erleichtern eine flexible Handhabe
172+
handschriftlicher Zuordungen. Sie erlauben die zügige Revision philologischer Urteile über
173+
Leithandschriften und stemmatologische Relationen. <br />
174+
175+
Somit ermöglicht die Digitaledition eine Synthese von zunächst gegensätzlich erscheinenden
176+
philologischen Standpunkten. In der Kombination von Ansätzen der <i>New Philology</i> und der
177+
<i>New Phylogeny</i>
178+
bietet sie die unabdingbare Voraussetzung für jede kritische Neuausgabe des ›Parzival‹. Indem sie
179+
stemmatologische Methoden mit überlieferungs- und mediengeschichtlichen Zugängen verbindet, stellt
180+
sie darüber hinaus eine neue Editionsform eigener Prägung und eigenen Rechts dar. Die Benutzerinnen
181+
und Benutzer werden dabei bis zu einem gewissen Grad an der editorischen Arbeit beteiligt und erhalten
182+
Freiräume im Zugriff auf unterschiedliche Textversionen und deren handschriftliches Erscheinungsbild.
183+
Die auf diese Weise bereitgestellten Überlieferungszeugnisse dürften für Literar- und Sprachhistoriker
184+
gleichermaßen von Interesse sein. <br />
185+
186+
Die Nutzung des digitalen Mediums fügt sich somit in einen jahrhundertealten
187+
Überlieferungsprozess ein - vom Zeitalter nach Gutenberg gelangen die Benutzerinnen und Benutzer
188+
in die Ära vor Gutenberg. Hier zeigt sich die kulturwissenschaftliche Relevanz der digitalen
189+
›Parzival‹-Ausgabe: Sie steht im Kontext aktueller Ausrichtungen der historischen
190+
Wissenschaften, die sich vermehrt der überlieferungsgeschichtlichen Medialität sowie
191+
diskursanalytischen und anthropologischen Fragestellungen zuwenden. Nach der an historischen
192+
Großereignissen orientierten politischen Geschichte und der über die menschliche Arbeit
193+
definierten Sozialgeschichte rücken Aspekte der Vermittlung, Tradierung und Speicherung
194+
historischer Wissensbestände in den Vordergrund. An die Stelle des <i>homo laborans</i> tritt
195+
der
196+
<i>homo tradens</i>
197+
der historischen Anthropologie. <br />
198+
</p>
199+
</div>

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